Eröffnungsrede für „Farben malen“ am 27.02.2005 in der Galerie im Thalhaus, Wiesbaden
Leila Haas, Theater Membran, Wiesbaden
„Farben malen? … Farben malen? … Farben malen? Farben malen!
Explodieren lassen ist wohl eher der richtige Ausdruck! ! !
Ich hoffe, Sie, verehrte Anwesenden, haben diese gewaltige Fülle schadlos überstanden.
Wenn Sie noch nicht geschaut haben, dann seien Sie gewarnt. Anna Bieler ist gemeingefährlich und kann aus dem Nichts heraus eine Lawine auslösen. Es wird Sie verblüffen, wenn ich Ihnen sage, dass ihre meistgenutzte Farbe das Weiß ist. An dieser Orgie der satten Töne hat es den größten Anteil. Dieses Weiß erst bringt leuchtendes Rot, üppiges Gelb und tiefes Blau zum Strahlen. Ein Weiß der Wärme, das in den morschen, kühlen Gelenken der zeitgenössischen Kunst wie eine Wohltat wirkt. Sie sind abgenutzt und arthritisch, diese Gelenke. Knirschen und ächzen bei jedem Schritt; gelangweilt und verbraucht.
Das Weiß in Annas Bildern dringt ein, heilsam und kraftvoll. Weiß der Mittagsfarben. Das Licht am Atlantik, an einem heißen Tag ist so. Oder am Mittelmeer. Alles wird hell erleuchtet, ohne Schatten und doch ist nichts entblößt. Verborgenes wird behütet …
Wenn Sie also die erste Attacke – die der kraftvollen Farben – überstanden haben, passen Sie auf. Genau wie die Tücke der tiefen See, der man an der Oberfläche in ihrer Harmlosigkeit nicht den Sog und die Strömung anmerkt, die sich metertief darunter verstecken, enthüllen sich Annas Bilder Schicht um Schicht. Sie sind voller Emotion. Voller Leidenschaft auch. Dieses, werte Gäste ist heutzutage fast schon ein Sakrileg. Leidenschaftlich zu malen!!!
Anna Bieler malt die Bilder, die wir träumen. Man fühlt sich ertappt, eine Vision auf der Leinwand zu sehen, die einem bekannt vorkommt. Wundervolle Begegnungen gibt es da. Die große Versammlung der Tiere etwa, vor ihrer Vertreibung aus dem Paradies, ist eine Episode. Mit diesen Wesen, Echsen, Dinosauriern, Fluggestalten wird die Geschichte der Erdbewohner erzählt. Ihre Fluchten vor Erdbeben, Überschwemmungen, vor vielgestaltigen Verfolgern. Die Grenzen zwischen Anthropologie, Zoologie und Botanik werden in Annas Bildern aufgehoben. Oder besser, lustvoll überschritten.
Die rote Göttin aus dem Zyklus der weiblichen Kraftfiguren imitiert ihrerseits die Position der großen Heuschrecke, die berühmt dafür ist, dass sie sich begatten lässt und anschließend den Geliebten verspeist. … wer sonst sollte dieses Kopfquartett zu ihren Füssen sein? Quittegrün und zitronengelb liegen sie da. Oder sind es vielleicht die Larven, die diese hingebungsvolle Gottheit anderen Menschenwesen vom Gesicht gerissen hat um sie zu befreien, ihnen das zweite Gesicht zu offenbaren?
Die Gottkollegin in Blau durchbricht kraftvoll antike Symbole. Sie erhebt sich gegen die geordneten, klassischen Mäander, zerreißt sie und jubiliert schließlich über den Triumph der Weiblichkeit. Man sieht sie nächtelang feiern, diese Göttin, sie tanzt nackt und blau über den Feuern und ihre runde Üppigkeit steht im Kontrast zum Aztekengesicht, das eine große Kraft und Härte spiegelt.
Die dritte in diesem energiereichen Weiberbund ist auch nur bei sehr flüchtigem Hinsehen brav. – Eine Märchenkönigin mit Reifrock und Krone. Ha, weit gefehlt! Ihr Gesicht zeigt sie uns erst gar nicht. Es ist weiß getüncht, mit blauem Mund. Selbstverständlich lebt sie zwischen Wasser und Luft. Im Rücken ein Schmetterling, mit wachsamen menschlichen Augen. Eine sehr potente Leibwache. Aber das alles ist nur Ablenkung, lassen Sie sich nicht in die Irre führen! Denn ihr wahres Wesen offenbart sie im Hintergrund:
Dort leuchtet ein mächtiger, blutroter weiblicher Baum. Archaische Erinnerungen werden wach; an tausendjährige Eichen, tausendjährige Linden und mit der Erdkruste verwurzelte tausendjährige Olivenbäume … und auch hier:
Die Fische. Überall Fische. Als Gefährten, als Begleiter, als Wächter.
Als Andeutung des Männlichen auch, in all der Weiblichkeit. Kleine und große Samen, die schwimmend und fliegend Luft und Wasser befruchten. Immer wieder:
Fische, auf dem Grund, in der Tiefe, Bewahrer unserer Geheimnisse und Vermittler zwischen den Welten. Bunt und selbstbewusst hüten sie wie kostbare Edelsteine die Abgründe der Seele. Was allein all diese Fische erzählen könnten …
Fruchtbarkeit in ihrer elementarsten Form, der Geburt, wird in einem weiteren Zyklus erzählt.
Die eigene Identität zerfällt im Schmerz. Der vorher so vertraute Körper wird zum Instrument für den Akt des Gebärens. Etwas löst sich für kurze Zeit auf, was dann erst wieder zusammengefügt werden muss.
Ein kleiner Papagei ist die Aussöhnung damit. Er ist willkommen zwischen diesen warmen, riesigen und roten Brüsten. Man hört ihn vor Freude kreischen – auch wenn sein spitzer Schnabel sofort bereit wäre anzugreifen, wenn er durch diese nährende Wärme erdrückt wird.
Oder macht er es dann wie der Fisch, fliegt davon?
Nach den tiefen Fragen zu Geburt und Mutterschaft endlich, endlich die Befreiung, die Rückeroberung der Leichtigkeit, des Humors und lustvoller Gemeinschaft mit Kobolden, Feen, Teufelchen und Waldgetier. Auch die Betrachter sind eingeladen, Platz zu nehmen auf einem der Äste des großen Lebensbaumes und durch die Zweige zu blinzeln. Auf diesem Baum ist Platz für alle. Man kann sich selbst in einem Wassertropfen gespiegelt erkennen oder eine ruhende Wolkenfrau.
Lebensfarben sollte der Titel dieser Ausstellung sein. Anna hat ihn einfach vergessen, aber ich habe ihn behalten, weil er so treffend ist. Ihre Kunst besteht darin, uns einzuladen, zu einem endlosen Spaziergang unter Wasser, in den Lüften und Baumwipfeln. Lang eingeschlossene Fantasien beginnen zu keimen und erblühen zu endlosen Geschichten. Sie gibt nur den Impuls, alles Weitere passiert im Kopf des Betrachters. Und ganz sicher wird jede Geschichte eine eigene sein.
Welche Borkenkäfer verbergen sich wohl hinter der Rinde von Annas roten Bäumen? Und diese Gesichter, Brüste, Vogelschwingen aus Wolken, wo sind sie nachts? Welcher Tanz wird aufgeführt, wenn die Tänzer diese Masken tragen, sind sie Teil einer Tragödie, einer Groteske oder eines Initiationsrituals?
Diese Kunst ist eine Einladung, aus gewohnten Bahnen auszubrechen. Eine Freude daran sich zu zeigen und dennoch so viel Platz zwischen Linien und Farbe zu lassen, dass Träume, Gedanken, Assoziationen Platz haben. Verwandtschaften werden geknüpft zwischen Pfingstrose und Pelikan, Penis und Phönix, Piranhas und Pfauenauge. Zwischen Himmel und Meer, Mensch und Gott. Götter, die machtvoll sind und doch niemanden erschlagen oder verfluchen. Keine blutleeren, asketischen Geschöpfe. Die Götter in Annas Pantheon sind voller Lust. Auf Erotik, auf Leben und auf Lachen. Sie sind großzügig. Und sie geben allen Betrachtern ebenfalls die Erlaubnis, es zu sein. Mit Farbe, mit Emotionen, Visionen und 1001 Geschichten. Die alle erzählt werden, irgendwann.
Nach meinen Warnungen vor Anna Bielers Bildern gebe ich Ihnen am Ende also nun die Gebrauchsanweisung. Das erste was Sie brauchen ist natürlich ZEIT. Setzen Sie sich vor eines der Bilder. Gehen Sie hinein. Beginnen Sie, zu erzählen. Laut oder leise. Für ein Kind oder einen Greis. Lassen Sie zu, dass sie plötzlich lachen müssen oder weinen. Oder dass eine langgehegte Depression verschwindet, einfach so. Und dafür eine alte Sehnsucht wieder entfacht wird. Schauen Sie, singen Sie ein Lied. Für diese Bilder und mit ihnen … und wenn Ihnen die Inspiration versagt, kommen Sie wieder und fragen Sie die rote Göttin um Rat oder den grünen Papagei. „